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1990er
Aufbruch zwischen Ost und West

Die 1990er-Jahre standen ganz im Zeichen der deutschen Vereinigung und der europäischen Integration. In dieser Zeit war die Hochschullandschaft geprägt von Reformen: Es ging um mehr Wettbewerb und Autonomie.

Universität Jena / TU Dresden in den 1990er-Jahren (Foto: David Ausserhofer)
Foto: David Ausserhofer
Ost-Universitäten nach der Wende: Links die Universität Jena Anfang der 1990er-Jahre, rechts die Hochspannungshalle der Technischen Universität Dresden 1995

 
Als der Stifterverband im Oktober 1990 Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker aus Ost und West zum Villa-Hügel-Gespräch über die deutsch-deutsche Wissenschaftslandschaft in die Krupp-Villa nach Essen einlud, war der Beitritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland wenige Wochen alt. Auf der Agenda standen eine erste Bestandsaufnahme und Perspektiven für einen gemeinsamen Prozess. Forschungsstarke Wissenschaftler und Einrichtungen der früheren DDR sollten schnell in die Wissenschaftsgemeinde integriert werden – bevor Nachwuchs und beste Köpfe ins Ausland abwanderten.

Der Stifterverband hatte dazu schon im Frühjahr 1990 ein Sonderförderprogramm aufgelegt, das vor allem Nachwuchswissenschaftler der DDR im Blick hatte. Reisestipendien und Forschungsaufenthalte an renommierten Forschungseinrichtungen in Deutschland, Europa und den USA sollten ihnen den Anschluss an die internationale Gemeinschaft der Forschenden erleichtern und zugleich für die schnelle Integration in eine gesamtdeutsche pluralistische Wissenschaftslandschaft sorgen.

Villa-Hügel-Gespräch 1990 (Foto: David Ausserhofer)
Foto: David Ausserhofer
Erstes Villa-Hügel-Gespräch nach der Wende: Martin L. Mruck (Leiter des Wissenschaftszentrums Bonn, li.) mit Ralf Dahrendorf (Rektor des St Antony's College der University of Oxford)

Umbau der Wissenschaftslandschaft

Es folgte ein rasanter Umbauprozess, den der Stifterverband im regelmäßigen Erfahrungsaustausch mit verantwortlichen Akteuren sowie seiner Wissenschaftsexpertise und Förderprogrammen mitgestaltete und begleitete. So halfen beispielsweise Studien im Auftrag des Stifterverbandes zu Publikations- und Patentstatistiken bei der Bewertung der Forschungsleistung von DDR-Wissenschaftlern – eine wichtige Vorarbeit für die spätere Evaluation von DDR-Wissenschaftsinstitutionen durch den damit beauftragten Wissenschaftsrat und die geplante Umstrukturierung der Wissenschaftslandschaft der ehemaligen DDR. Gesamtdeutsche Arbeitstagungen von Wissenschaftlern unterstützten die Neuorientierung in einzelnen Fachbereichen von Hochschulen. Aber es ging auch um ganz handfeste Hilfe bei der Ausstattung mit Fachliteratur und neuen Geräten.

Wolfgang Frühwald, Münchner Literaturprofessor und damals Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, blickte Mitte der 1990er-Jahre zufrieden zurück. Der Erneuerungsprozess sei gelungen. "Wir haben zusammen in unglaublich kurzer Zeit ein System geschaffen, das in sich selbst effektiv arbeitet und seine Umwelt zu gestalten beginnt", so Frühwald. Schmerzhafte Einschnitte in die ostdeutsche Wissenschaftslandschaft hätten den völligen Zusammenbruch verhindert und vielen einen fliegenden Start ermöglicht.

Bei Cornelius Weiss, Chemiker und damals Rektor der Universität Leipzig, fiel der Rückblick weniger euphorisch aus. Die Wissenschaftslandschaft Ost habe den Organisationen der alten Bundesrepublik wie DFG, Max-Planck-Gesellschaft, DAAD, Humboldt-Stiftung und Stifterverband viel zu verdanken, aber eine "Wissenschaftswüste Ostdeutschland" habe es nie gegeben. Weiss betonte: "Auch in der DDR wurde international respektierte Forschungsarbeit geleistet." Das gelte vor allem für die Grundlagenforschung.

Stifterverband-Verwaltung in Essen (Foto: Jörg Wenk)
Foto: Jörg Wenk
Anfang der 1990er-Jahre bezog der Stifterverband ein neues Verwaltungsgebäude in Essen-Heidhausen, in dem heute noch das Deutsche Stiftungszentrum sitzt.

Stiftungsprofessuren

Stifterverband-Logo aus den 1990er-Jahren
Das Logo des Stifterverbandes in den 1990er-Jahren betonte das Selbstverständnis als Gemeinschaftsaktion der Wirtschaft.

Wichtige Impulse für die Erneuerung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft lieferten seit 1991 die Stiftungsprofessuren Ost – vor allem für Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler. Mit ihnen zogen neue Forschungsthemen in die Hochschule ein. Zudem unterstützten sie – wie schon in Westdeutschland – die Profilbildung. Bis 1999 waren es mehr als 40 Professuren, die der Stifterverband mit Unternehmen, Stiftungen und privaten Förderern auf den Weg brachte.

"Ihr Beitrag zu einer vereinten deutschen Wissenschaftslandschaft ist nicht zu unterschätzen", sagt Arend Oetker. Der Unternehmenslenker privatisierte nach der Wende im Auftrag der Treuhand Textilbetriebe in der ehemaligen DDR und wurde 1998 Präsident des Stifterverbandes. Sein Urteil im Rückblick: "Die Impulse des Stifterverbandes haben großen Anteil daran, dass die wiedervereinte Bundesrepublik zu den technologisch führenden Ländern gehört."

 

Modellversuche und Aktionsprogramme

Mit der Integration ins gesamtdeutsche Wissenschaftssystem erbten die neuen Länder auch die strukturellen und finanziellen Probleme der alten Bundesrepublik. Noch immer waren die Universitäten übervoll, überreguliert und unterfinanziert. Was der Stifterverband schon seit den 1980er-Jahren gefordert hatte, wurde jetzt auch in den politischen Wissenschaftsgremien wie Wissenschaftsrat, Hochschulrektoren- und Kultusministerkonferenz laut: Mehr Autonomie, mehr Wettbewerb, mehr Profilierung und eine engere Zusammenarbeit mit der Wirtschaft sollten Hochschulen finanziell stärken. Vermehrte Evaluationen und kaufmännische Rechenschaftspflichten sollten Qualität und Effizienz zugleich steigern. Vorbilder wurden Dienstleistungsunternehmen und die Wirtschaft.

Doch es ging nicht nur ums Geld. Um im internationalen und europäischen Wettbewerb zu bestehen, sollte sich auch die Struktur des Studiums ändern. Neue Forschungsansätze, neue Studienfächer und mehr Praxisbezug waren jetzt gefragt. Zusammen mit Hochschulvertretern ging der Stifterverband 1994 in den Bad Homburger Thesen noch einen Schritt weiter. In Modellversuchen sollten an Hochschulen neue Inhalte, Strukturen und Organisationsformen erprobt werden.

Jurysitzung (Foto: David Ausserhofer)
Foto: David Ausserhofer
Seit den 1990er-Jahren schreibt der Stifterverband systematisch Hochschulförderprogramme aus. Die Preisträger werden durch eine Expertenjury bestimmt.

Der Verband ging hier mit Förderprogrammen auch ganz praktisch voran. Mit dem Aktionsprogramm "Studienreform – Profilbildung – Wettbewerb" förderte der Stifterverband seit 1994 modellhafte Projekte zur praxisbezogenen Lehre. Andere Programme nannten sich "ReformUniversitäten" (1997) und "ReformFakultäten" (1998). Ihnen allen war eins gemein: Sie sollten die Modernisierung und Internationalisierung von Studiengängen voranbringen.

Da wurde beispielsweise an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden mit Fördermitteln in Höhe von 600.000 Mark praxis- und patientenorientiertes Lernen in Studienmodulen nach dem Harvard-Modell erprobt. An der Juristischen Fakultät der Universität Greifswald wurde gemeinsam mit dem Stifterverband ein erster Bachelor-Studiengang für Juristen an einer deutschen Universität initialisiert. Und die Technische Unversität München setzte auf neue Ausbildungsschwerpunkte, die sich stärker an den Erfordernissen des Arbeitsmarkts orientierten. Mathematikstudierende konnten sich hier nun erstmals zu Finanz-, Wirtschafts- und Biomathematikern ausbilden lassen.

Innovativ waren dabei nicht nur die geförderten Projekte – innovativ war auch das neue Förderformat. Der Stifterverband schrieb seit den 1990er- Jahren systematisch Wettbewerbe aus. Hochschulen, Fakultäten und Fachbereiche konnten sich formlos mit ihren Projektideen um Fördermittel bewerben. Eine Jury aus Experten entschied – ein sehr erfolgreiches Förderformat, das bald auch andere, darunter staatliche Akteure, übernahmen.

Studiengebühren in der Diskussion

Manfred Erhardt, zuvor Berliner Wissenschaftssenator und ab 1996 Generalsekretär des Stifterverbandes, setzte sich auch stark für die Einführung von Studiengebühren ein und legte gemeinsam mit dem Centrum für Hochschulentwicklung 1998 ein Konzept für sozial verträgliche Studiengebühren vor. Sie sollten Hochschulen neue Mittel bereitstellen und den Anspruch von Studierenden auf eine hohe Qualität von Studienangeboten stärken. Bei einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Stifterverbandes sprach sich auch eine knappe Bevölkerungsmehrheit von 54 Prozent für Studienbeiträge aus.

Die 4. Novelle des Hochschulrahmengesetzes im Herbst 1998 schloss ein Gebührenmodell dann zwar aus, dafür wurden jetzt wichtige weitere Reformimpulse geltendes Hochschulrecht. Die Selbstregulierungskompetenzen von Hochschulen wurden deutlich gestärkt, viele Verwaltungsvorschriften entfielen. Eine stärker leistungsorientierte Finanzierung der Hochschulen wurde auf den Weg gebracht, Regelstudienzeiten wurden verkürzt. Der Wissens- und Technologietransfer wurde ausdrücklich Aufgabe von Hochschulen. Außerdem konnten in Deutschland jetzt erstmals auch Bachelor- und Masterabschlüsse erlangt werden. Denn die deutsche Vereinigung hatte in den 1990er-Jahren auch das europäische Projekt mit neuem Elan auf den Weg gebracht.

 

Modernes Stiftungsmanagement

Auch beim Stifterverband selbst standen die Zeichen am Ende des Jahrzehnts auf Veränderung. Unter Arend Oetker und Manfred Erhardt führte der Stifterverband ein modernes Stiftungsmanagement mit systematischer Projektevaluation ein. Zudem wurden die Förderschwerpunkte neu justiert. Neben der Neuausrichtung des Hochschulsystems rückten Kooperationen und die interdisziplinäre, weltweite Vernetzung ganz oben auf die Agenda. Der Stifterverband betreute jetzt rund 280 Stiftungen, die ihr Gewicht für Bildung, Wissenschaft und Forschung einsetzten – ganz im Sinne von Karlheinz Kaske, ehemals Topmanager bei Siemens, der sich als Vorsitzender des Stifterverbandes von 1993 bis 1998 für Verbesserungen im Steuerrecht für Stiftungen engagierte. Sein Credo, das den Stifterverband bis heute prägt: "Die Pflege der Wissenschaften ist eine Gemeinschaftsaufgabe."

Die Pflege der Wissenschaften kann in einer insgesamt verwissenschaftlichten Zivilisation nicht allein eine staatliche Aufgabe sein und bleiben. Sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

Karlheinz Kaske (Foto: J.H. Darchinger)
Foto: J.H. Darchinger

Karlheinz Kaske

Vorsitzender des Stifterverbandes 1993 bis 1998

Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft

Die 1990er dürften rückblickend als ein Jahrzehnt der Um- und Aufbrüche gewertet werden. An ihrem Ende wurden viele Weichen für die Zukunft gestellt, die noch heute nachwirken. Eine Transformation zur Wissensgesellschaft funktioniert nicht, ohne die Menschen mitzunehmen – so lautete bereits Ende der 1990er-Jahre das Credo. Im Mai 1999 unterzeichneten auf Initiative des Stifterverbandes führende Wissenschaftsorganisationen ein Memorandum, in dem sie sich verpflichteten, den Dialog mit der Öffentlichkeit zu verstärken.

Ein weiteres Leuchtturmprojekt dieses Jahrzehnts war der Deutsche Zukunftspreis – Preis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation. Der Stifterverband kümmerte sich von Beginn an um die Einwerbung der Preisgelder und organisierte die Geschäftsstelle. Der erste Deutsche Zukunftspreis wurde 1997 an Christhard Deter, den Erfinder des Laserfernsehens, verliehen. Die heute mit 250.000 Euro dotierte Auszeichnung ehrt auch heute noch herausragende ingenieur- und naturwissenschaftliche Leistungen und wird – ganz im Sinne des Dialogs mit der Öffentlichkeit – im Rahmen einer Show im Fernsehen übertragen.

Unterzeichnung des PUSH-Memorandums 1999 (Foto: David Ausserhofer)
Foto: David Ausserhofer
Vertreter führender deutscher Wissenschaftsorganisationen unterzeichnen 1999 die Erklärung Public Understanding of Sciences and Humanities (PUSH), darunter DFG-Präsident Ernst-Ludwig Winnacker (Mi.) und Stifterverband-Generalsekretär Manfred Erhardt (re.)