Alt text

1970er
Frischer Wind unter den Talaren

In den 1970er-Jahren wurde die alte Ordinarien-Universität in ihren Grundfesten erschüttert. Die Gesellschaft erlebte eine neue, sozialliberale Politik. Manche ihrer hoffnungsvollsten Kinder griffen zu den Waffen. Im trüben Deutschen Herbst versuchte der Stifterverband, den Durchblick zu behalten: Seine Themen waren Pluralismus und die Freiheit der Wissenschaft.

Bild: Stifterverband-Archiv

 
Gerade die Wände eigneten sich bestens für Parolen: "Über Gewalt redet man nicht, man wendet sie an" und "Haut den Professoren ihre Leichen um die Ohren", stand 1969 an der Universität Kiel beziehungsweise an der Freien Universität (FU) Berlin geschrieben. Manche Sprüche, etwa in einem Studentenwohnheim in Bonn, lasen sich wie Vorboten der Rote-Armee-Fraktion (RAF): "Die Macht kann nur aus Gewehrläufen kommen."

Härter hätten die Fronten kaum sein können. Otto von Simson, Dekan der Philosophischen Fakultät der FU Berlin, sprach davon, dass seine Fakultät de facto „unter der Herrschaft einer Mafia" lebe. Reinhold Zundel, Oberbürgermeister von Heidelberg, drohte gewalttätigen Studenten, dass sie selbst die "Wucht der Gewalt" in Form "des Knüppels" zu spüren bekämen. Anton Kiesselbach, Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Düsseldorf, dachte, wie wohl viele Professoren jener Zeit, über Selbstverteidigung nach: "Ich kenne zwei Karategriffe, mit denen ich mir ein oder zwei Leute vom Halse halten könnte." Die alte Ordinarien-Universität, die plötzlich als "versteinertes Fossil" galt, lag da bereits am Boden.

 

Sorge um die Freiheit von Wissenschaft und Forschung

Seit dem Zweiten Weltkrieg konnten Lehrstuhlinhaber als Ordinarius oder Ordinaria unbeschränkt über Forschungsvorhaben, Lehrinhalte und Wissenschaftlerkarrieren bestimmen. Diese Ära, die bis zu Humboldt zurückreichte, war nun vorüber: Professoren verloren ihre exklusive Entscheidungsmacht in den Fachbereichs- und Fakultätsräten wie auch in den Hochschulsenaten. Die neue sozialliberale Politik ab 1969 unter Bundeskanzler Willy Brandt setzte ihnen ein partizipatives Modell sozusagen vor die Nase. Fortan konnten wissenschaftliche Bedienstete, Studierende und das nicht wissenschaftliche Personal mitbestimmen.

Das war ein Demokratisierungseifer, der nicht nur konservative Professoren erschütterte. Auch außeruniversitäre Wissenschaftler, Wirtschaftsvertreter und die Gestalter des Stifterverbandes befürchteten, dass sich nun eine Aussage der Studenten womöglich bewahrheiten könnte: dass "die große Zeit der Gelehrten vorbei" sei. Man sorgte sich besonders um die Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Hellmut Ley, Vorsitzender des Stifterverbandes, betonte, dass alle Bestrebungen oder Tendenzen, die diese Freiheit gefährdeten, undemokratisch seien – ob sie nun von einzelnen Interessengruppen an den Hochschulen oder von der staatlichen Planung und Gesetzgebung kämen.

Adolf Butenandt, Biochemiker, Nobelpreisträger und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, mahnte 1970 in einem Vortrag beim Stifterverband in Münster vor den Folgen: "Auch die moderne Gesellschaft benötigt den Gelehrten mit weitem Horizont, der befähigt ist, immer wieder Neues zu erfassen oder zu ersinnen, der durchdrungen ist von seiner Berufung und der weiß, dass es eine Gnade ist, den Sinn geerbt zu haben für die geistige Ordnung der Welt." Man müsse mit solchen Männern und Frauen, die einem Volk nie in übergroßer Zahl geschenkt würden, behutsam umgehen. Butenandt wusste um den Sog des Auslands: Als junger Professor hatte er 1935 einen Ruf an die Harvard-Universität in Boston abgelehnt. Adolf Butenandt war einer jener Forscher, die im Fokus der Studentenproteste standen: Nationalsozialist, Direktor eines Instituts der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im "Dritten Reich" – und auch in Nazigräuel verstrickt?

Es sollte bis 2006 dauern, bis dieser Sachverhalt genau untersucht war und der Spiegel titelte: "Freispruch für Butenandt". Diese späte wissenschaftliche Aufklärung von Naziverstrickungen war kein Einzelfall, sondern wohl eher die Regel – allen 68er-Protesten zum Trotz.

Der technische Fortschritt gilt als das grundlegende wachstumsfördernde Phänomen, in das die Wissenschaft als entscheidende Produktivkraft integriert ist.

Hellmut Ley

Vorstandsvorsitzender des Stifterverbandes 1970-1973

Foto: Rudolf Ohnesorge
Hellmut Ley (2.v.re.), Metallgesellschaft AG und später Vorstandsvorsitzender des Stifterverbandes, zusammen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Werner Bahlsen (H. Bahlsen Keksfabrik, 2.v.li.) und Gerhard Hess (Deutsche Forschungsgemeinschaft, re.)

Forschungsförderung in der Kritik

In den 1970er-Jahren rückte neben den Reformen von Hochschulen und Schulen ein anderes Thema in den Fokus der Öffentlichkeit: die Wissenschaftsförderung. Der Spiegel hatte 1969 ausführlich in seiner Hochschul-Artikelserie "Mit dem Latein am Ende" über undurchsichtige Wirtschaftsbeteiligungen an universitärer Forschung berichtet. Ein Zitat eines westdeutschen Professors darin war: "Von wem ich mein Geld bekomme, brauchen nur meine Frau, meine Sekretärin und ich zu wissen."

Im Raum stand die Sorge, dass sich die Ordinarien-Universität womöglich zur Industrie-Universität entwickeln könnte, wie es der linke Marburger Soziologieprofessor Werner Hofmann formulierte. Transparenz war das Gebot der Stunde, das der Stifterverband selbst bereits favorisierte. Er betrieb Aufklärungsarbeit über die Geldflüsse der deutschen Wissenschaftsförderung seit seiner Gründung – wenn auch aus anderen Gründen: um über den Nutzen von Wirtschaftsgeldern in der Wissenschaft zu informieren und auf Förderdefizite hinzuweisen. Während in der jungen Bundesrepublik die Wissenschaftspolitik von einer geradezu faszinierenden Offenheit geprägt war – Politiker, Professoren und Industrielle zogen noch an einem Strang, um die deutsche Wissenschaft wieder an den internationalen Fortschritt anzunähern –, verhärteten sich in den 1970er-Jahren zunehmend die Fronten.

Die Ölkrise 1973, in deren Folge nicht nur der Staat klammer wurde, sondern auch die Hochschulreform ihr vorläufiges Ende fand, spitzte die Situation weiter zu. Das Misstrauen zwischen Öffentlichkeit, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wuchs. Über allem schwebte der Terror der RAF, der Politiker, Banker und Industrievertreter attackierte oder sogar umbrachte.

Foto: Rudolf Ohnesorge
1976: Vorstandsvorsitzender Hans-Helmut Kuhnke (Mi.) mit Martin L. Mruck (Wissenschaftszentrum), Gerhard Elkmann (Schatzmeister), Thorwald Risler (Generalsekretär), Werner Stegemann (Finanzen) und Hans-Henning Pistor (stellv. Generalsekretär) (v.li.)

Der Stifterverband als Treuhänder und Förderer innovativer Forschung

Der Stifterverband reagierte auf die gesellschaftlichen Umbrüche, indem er zunächst seine langjährige Arbeit, die Freiheit der Wissenschaft und seine Rolle als hoch anerkannte und gestalterische Instanz in der deutschen Wissenschaftspolitik verteidigte. Hans-Helmut Kuhnke, der neue Vorsitzende von 1974 bis 1980, wurde nicht müde zu erklären, dass der Stifterverband die deutsche Wissenschaft uneigennützig fördere und bei Weitem kein Vertreter einiger weniger Industriemäzene sei.

Nun ging es dem Verband darum, Deutschland ein unabhängiges, leistungsfähiges und lebendiges Wissenschaftssystem zu erhalten. Er thematisierte die "Übermacht des Staatsapparats" und rief vor allem den Mittelstand auf, dabei zu helfen, vorhandene wissenschaftliche Freiräume zu schützen – durch Spenden oder die Gründung von Stiftungen, deren Geld der Stifterverband treuhänderisch verwaltet. Ein Ruf, dem viele folgten: 1979 war der Verband bereits ein stiftungspolitisches Schwergewicht in Europa. Er verwaltete das von mehr als 72 Stiftungen und Stiftungsfonds gebildete Treuhandvermögen von über 100 Millionen Mark.

Anfänglich eher als Ergänzung für schwindende Wirtschaftsspenden gedacht, war das Stiftungssegment nun zum starken Standbein der wissenschaftsund bildungspolitischen Aktivitäten des Stifterverbandes geworden. Anfang der 1970er-Jahre befürchteten die Lenker im Verband noch eine dirigistische Forschungsplanung durch den Staat. Indizien waren aus ihrer Sicht die in wissenschaftspolitischen Debatten immer häufiger auftauchenden Begriffe Prioritätenentscheidung, Forschungsplanung oder Erfolgskontrolle gewesen. Sie stellten der Planungseuphorie 1971 ein neues Vergabeprogramm entgegen.

Foto: Stifterverband-Archiv
Bundespräsident Walter Scheel (obere Reihe, 3.v.re.) empfing 1975 Vertreter von 14 Stiftungen zu einem Informationsgespräch, darunter Thorwald Risler und Hans-Helmut Kuhnke vom Stifterverband (obere Reihe, 2. und 3.v.li).

 
Ziel war es, dass Spenden jetzt speziell Wissenschaft und Forschung zugutekommen sollten, die den gesellschaftlichen Pluralismus, die soziale Marktwirtschaft, den Wettbewerb und die Leistungsgesellschaft bewahren. Konkret unterstützte der Stifterverband in den 1970er-Jahren vorrangig wissenschaftliche Alternativmodelle zur staatlich geförderten Forschung, die Innovationspotenzial besaßen, Exzellenz versprachen und ansonsten womöglich in der Schublade geblieben wären – eine Ausrichtung, die noch heute gilt. Mit den Spenden aus der Wirtschaft regte der Verband Vorhaben an, die festgefahrene wissenschaftliche Diskussionen wieder in Gang bringen und mit neuen Aspekten bereichern konnten.

Ein prominentes Beispiel hierfür war der Aufbau des Historischen Kollegs in München, das der Stifterverband mit großer Unterstützung der Deutschen Bank maßgeblich finanzierte. Über die Jahre schaffte es der Verband immer wieder, mit kleinen Summen – im Verhältnis zu den Fördermillionen des Staates – zukunftsgewandte Forschung anzustoßen, wie 1973 die vorgeburtliche Diagnostik erblich bedingter Krankheiten, die sich zu einem Schwerpunktprogramm der DFG-Forschung entwickelte. Bundespräsident Walter Scheel brachte die Leistungen des Stifterverbandes im April 1976 vor der Arbeitsgemeinschaft deutscher Stiftungen auf den Punkt: "Der Raum der Freiheit der Wissenschaft wird durch die privaten Stiftungen erheblich erweitert und, im gewissen Maße, gesichert." Und diese Funktion der privaten Wissenschaftsförderung war weit bedeutsamer, als der von den Stiftungen bereitgestellte Geldbetrag vermuten ließ.